Zwischen Stolz und Vorurteil

Während einer Friedensradfahrt durch Weißrussland zeigt das Land ganz andere Seiten als das verengte Bild der osteuropäischen Halbdiktatur. Seine gastfreundlichen Bewohner ringen um Aufmerksamkeit, Anerkennung und Identität.


Von Ingo Arzt

Das Ende der Europäischen Union gleicht einer Reise in die Vergangenheit. Mitten durch eine scheinbar unendliche Landschaft aus Weizenfeldern, Wäldern, Seen und Sümpfen verläuft zwischen dem EU-Mitglied Litauen und Weißrussland plötzlich eine gesicherte Grenzanlage. Sie ist mit tausenden Augen gespickt, Kameras, die in alle Richtungen spähen, um die Reisefreiheit in der wohligen Welt der Union gegen die da im Osten zu sichern.  

Nach 3000 Kilometern sind knapp 30 Friedensradler von „Bike for Peace and New Energies“ hier angekommen. Sie sind in Paris gestartet, haben mit Friedensfahnen am Gepäckträger Frankreich, Deutschland, Polen und Litauen durchquert, bis Moskau wird der Demonstrationszug sieben Wochen dauern. Grenzen, das sind normalerweise Schilder und Fahnen mit einem Staatswappen am Straßenrand, vor denen man ein Gruppenfoto schießt.

Belarus-Fahne am Gepäckträger

Weißrussland, dieses weite, unberührte Land mit seinen 10.000 Seen und 20.000 Flüssen, seinen weiten Sumpfgebieten und Wäldern, eingequetscht zwischen Russland und der Europäischen Union, diese Land sehnt sich nach Aufmerksamkeit. Die Radler werden hier als Staatsgäste empfangen: Noch vor dem weißrussischen Schlagbaum überreicht ein Chor in traditioneller Tracht einen runden Brotlaib als Symbol des Friedens. Das Staatsfernsehen interviewt deutsche  Kriegsdienstverweigerer, es wird bis zur Ankunft vier Tage später in Minsk fast jeden Tag in den Abendnachrichten über die russischen, weißrussischen und deutschen Fahrer berichten. Über Dimitri Nuss etwa, der die gesamte Strecke von 4067 Kilometer zurücklegt – trotz seiner spastischen Lähmungen. Über den jüngsten, 16-jährigen Fahrer Cornelius Hansen. Oder über den 65-jährigen Joachim Braun, er organisiert seit 1991 zusammen mit seiner Frau Erholungswochenenden und Herzoperationen für weißrussische Kinder: Vor allem im Süden des Landes regneten die radioaktiven Wolken nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 ab. Noch heute warnen Schilder vor besonders stark verseuchten Gebieten.

Gleich an der Grenze gesellt sich eine Gruppe Radler aus der nahen Stadt Oshmiani dazu.
Ein Sportlehrer erzählt, wie er früher, als Litauen und Weißrussland Republiken der Sowjetunion waren, Freunde in Vilnius besuchte. Jetzt braucht er dazu ein Visum, das jedes Mal 60 Euro kosten würde. Die Gebühren erheben die Staaten der EU. Zu teuer für ihn. Der Mindestlohn in Weißrussland liegt bei 150 Euro, auf dem Land wird er kaum überschritten. Nach Russland und in die Staaten der GUS kann er ohne Visum reisen.

In der Isolation nach Westen sucht das Land umso mehr im Inneren nach seiner eigenen Identität: In der Kleinstadt Golshany besuchen die Friedensradler ein Gymnasium. Vor der dreistöckigen Schule stehen der Rektor und ein paar Lehrer in der formalen Art der Weißrussen, kerzengerade, die Händen auf dem Rücken verschränkt. Innen ein sehr lichtes Gebäude, alles frisch gestrichen und tadellos sauber. Im Computerraum stehen Pflanzen zwischen den Flachbildschirmen, eine junge Lehrerin gibt eine PowerPoint-Präsentation, die Werte der Schule sind, der Priorität nach: Die Erde, als unser aller Haus, das Vaterland, die Familie, Arbeit als Existenzgrundlage, Wissen erwerben, für den Frieden eintreten.

Das hat viel mit Alexander Lukaschenko zu tun. Seit 1994 ist er Präsident des Landes. Durch eine Verfassungsänderung ist er quasi Alleinherrscher, im Parlament sitzt kein einziger Oppositionspolitiker, bei der Wahl 2006 erhielt er angeblich 88 Prozent der Stimmen – vielen im Land ist klar, dass das Ergebnis manipuliert war. Er richtet das Land nach Osten aus, nennt Russland einen Bruderstaat, seine konservativen Vaterlands-Ideale, die in den Schulen vermittelt werden, kommen vor allem auf dem Land und bei den Alten gut an.

Nach dem zehnten Storchennest auf einem Hausdach am Wegesrand hat man genug gestaunt über die Tiere, die wie arrogante Adlige auf die Radler hinabblicken, und findet Zeit für lange Gespräche. Mit Valery Rassolko zum Beipsiel, ein 55-jähriger weißrussischer Weltenbummler, der die Tour durch sein Land minutiös geplant hat. Er verdreht fast schon genervt die Augen, wenn man Lukaschenko erwähnt: Man solle sich das Land anschauen, die ins unendliche verlaufenden, sanften Hügel und die schlichten Dörfer mit ihren Holzhäusern auf dem Land. Das saubere, aufgeräumt Minsk mit seiner prachtvollen Straße der Unabhängigkeit und ausgedehnten Parks. Die Weißrussen sind sehr stolz auf ihre junge Nation, sie tun alles, um den wenigen Besuchern das Land von der besten Seite zu zeigen. Manchmal fehlt die Erfahrung: Auf dem Land halten selbst gute Restaurants Wurst mit Kartoffelbrei für ein westeuropäisches Frühstück. Rassolko jedenfalls will sich kaum auf eine Diskussion einlassen, ob Lukaschenko nun ein Machthaber, Präsident oder ein stiller Diktator ist.

Auch Tatsiana Fadzeyeva durchquert ihr Land auf dem Rad, eine 24-jährige Juristin, die als Wahlbeobachterin für die Opposition bei den Präsidentschaftswahlen 2006 verzweifelte, weil die Beobachter von den Auszählungen ausgeschlossen wurden. Klar sei Lukaschenko ein Diktator, entfährt es ihr. Dann sagt sie wieder, dass man das auf keinen Fall schreiben soll. Weil es ein falsches Licht voller Vorurteile auf das Land und seine Bewohner werfe. Auf den Universitäten kann man sich kritisch gegen das Regime äußern, allerdings mit diffusem Risiko. Es könnte Listen mit oppositionellen Studenten geben, die angeblich der KGB anlegt, manche fliegen wegen „mangelnder Disziplin“ von der Universität. Unter den Studenten soll es Spitzel geben. Alles Gerüchte mit einem Kern Wahrheit, sagt sie, von dem keiner weiß, wie hart er ist. Vor Jahren verschwanden Oppositionspolitiker spurlos, aufgeklärt wurden die Fälle nie. Das alles führt dazu, dass es vielen kritischen Studenten zu riskant ist, auf die Straße zu gehen. Man wartete still auf den Tag X, an dem Lukaschenko weg ist.

Trachtenchor in Belarus


Dann, sagt Aliaksand Lahvinetz, muss die momentan sehr schwache Opposition bereitstehen. Er ist die rechte Hand von Alyksandr Milinkevich, der 2006 als vielversprechendster Oppositionskandidat gegen Lukaschenko verlor. Nun ist er Vorsitzender der „Nationalen Bewegung für Demokratie“, die das Land Richtung Westen, zur EU führen will. Ein langer Weg: Das Büro der Bewegung befindet sich in einer kleinen Wohnung in einem Hinterhof neben der Straße der Unabhängigkeit in Minsk, es gibt nicht einmal ein Klingelschild.


„Belarus ist total gespalten. Es gibt einen extrem konservativen Teil und einen Teil, der Richtung Europa will“, sagt der 37-jährige Lahvinetz in einem Straßencafé neben einem Büro des KGB. Der würde ihn ohnehin überwachen, sagt er, dann kann man auch hier sprechen. Er appelliert an die EU: Sie solle das Land nach Kräften unterstützen, Reisefreiheit gewähren, auch wenn das Regime vielleicht davon profitiere – der Zivilgesellschaft komme es noch viel stärker zugute. Als Beispiel nennt er die beiden Oppositionszeitungen Nashaniva und Narodnaya Volia, die seit vergangenen Herbst wieder am Kiosk zu kaufen sind – weil Weißrussland die Unterstützung der EU für einen Kredit beim Internationalen Währungsfonds brauchte.

Deutschland hätte für dieses Land eigentlich eine besondere Verantwortung wahrzunehmen, denn egal, ob Student, Opposition oder altes Mütterchen: Das Trauma der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg prägt die Nation noch immer. Die Friedensfahrt führt durch viele Kleinstädte und auf jedem Empfang spricht ein mit Orden behangener Veteran des Kriegs, die in Weißrussland noch immer als Helden verehrt werden. Deutsche Truppen und ihre lokalen Helfershelfer haben mindestens ein Viertel der zehn Millionen Bewohner des Landes erschossen, vergast, verbrannt. Wer kennt schon das Ghetto von Volozin, eine Stadt, die fast komplett ausgerottet wurde und eine der weltweit berühmtesten jüdischen Schulen beherbergte? Die 260 Vernichtungslager, die Nazi-Deutschland im ganzen Land verteilt hatte? Oder das Dorf Chatyn in der Nähe von Minsk. Am 22. März 1943 haben die Deutschen aus Rache wegen eines Partisanenangriffs mit lokalen Truppen die fast 190 Bewohner des Dorfes in ihre Kirche getrieben und bei lebendigem Leib verbrannt. Weißrussland hat dort eine nationale Gedenkstätte eingerichtet. Dazu gehört ein „Friedhof der Dörfer“. Schwarze Qauder stehen in der Mitte von mit grauem Kies ausgefüllten, quadratischen Gräbern, jeder enthält die Asche eines Dorfes. Es gab 186 Chatyn's in Weißrussland, dazu kommen 433 Dörfern, die zerstört und nach dem Krieg wieder aufgebaut wurden. Die Veteranen erzählen von ihren Schlachten nicht mit Siegerpathos, sondern mit Schrecken. Zwei Worte fallen dabei besonders häufig: „Druschba“ und „Mir“ – Frieden und Freundschaft.



Der Autor arbeitet als Korrespondent der tageszeitung in Baden-Württemberg und fuhr 2009 mit „Bike for Peace“ 800 Kilometer von Warschau über Villnius nach Minsk. Der Text erschien in der taz in gekürzter Form. Vervielfältigung und Druck nur mit Genehmigung des Autors. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.


Unendliche Landschaften (gekürzter Beitrag in der taz)

Weitere Infos:

Weißrussland: Seit dem Jahr 1991 haben die Weißrussen zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen eigenen Staat. Im 13. Jahrhundert gehörte das heutige Gebiet zum Großfürstentum Litauen, später zum Königreich Litauen-Polen oder zu Russland, nach dem Ersten Weltkrieg teilweise zu Polen und teilweise zur Sowjetunion, nach dem Zweiten Weltkrieg komplett zur UdSSR. Die Sprache ist dem Russischen ähnlich, ist aber auch stark vom Polnischen geprägt. Im Kalten Krieg galt Belorussland als Werkbank der Sowjetunion, noch heute produziert die fast komplett unter der Kontrolle des Staates stehende Industrie Busse, schwere LKW, landwirtschaftliche Geräte oder Abschussrampen für russische Atomraketen.   

Der Verein „Bike for Peace and New Energies“ organisiert in Anlehnung an Friedensfahrten in den 80er Jahren seit 2006 jeden Sommer circa 4000 Kilometer lange Fahrradtouren von Paris nach Moskau. In Weißrussland wird die Tour vom Sportministerium und vom Radsportverband unterstützt. Für Organisator Konni Schmidt dient die Fahrt vor allem der Verständigung und Annäherung zwischen den Völkern. Veränderungen im dortigen politischen System müssten aus dem Land selbst kommen. Zum Friedensmotto der Fahrt gehöre auch der Einsatz für erneuerbare Energien – die seien überall vorhanden und verhinderten künftige Kriege um Rohstoffe.

Fotos aus Alexanders Fotogalerie 2008


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